"Messie-Welten"

von Veronika Schröter 

Seit 2002 beschäftigt sich die Pädagogin und Psychotherapeutin Veronika Schröter intensiv mit dem Messie-Syndrom, entwickelt ihre eigene Therapiemethode und baut in Stuttgart ein Messie Kompetenz Zentrum auf, in dem sie Fachkräfte ausbildet und Supervision anbietet. An einer Tagung im April 2013 in der süddeutschen Evangelischen Akademie Bad Boll präsentierte sie zusammen mit Prof. Dr. Dieter Ebert von der Universität Freiburg im Br. eine Studie und postulierte eine neue Bezeichnung für den Bereich Sammeln/Horten des Syndroms: Wertbeimessungsstörung.

In jenen Teilen des Buches, die auf die Biographien, Ausprägungsformen und Möglichkeiten der Hilfestellungen ausgerichtet sind, fasst die Autorin ihre Erkenntnisse aus der Forschungstätigkeit und Therapiearbeit systematisch gegliedert zusammen. Im Kapitel 2 listet sie alle möglichen Auswirkungen des Syndroms auf bis hin zu den Problemen, mit denen professionelle Helfer konfrontiert sind – nicht selten völlig überraschenderweise, wenn sie z.B. als Arzt zum ersten Hausbesuch gerufen werden. Sodann überdenkt sie die Messie-Typologien von Sandra Felton und bringt sie (endlich, im Original waren sie wenig hilfreich) in eine praxisnähere Form. Im Kapitel 4 werden die Ursachen und Auslöser (Trigger) des Syndroms analysiert.

Ab Kapitel 6 plädiert Veronika Schröter – wie durchs ganze Buch untermauert durch zahlreiche eindrückliche Fallbeispiele aus ihrer Praxis – für eine respektvolle, ganz an den originären Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtete Vorgehensweise. Sie warnt eindringlich vor überstürzten Massnahmen, gar übergriffigen Räumungen: Zuerst seien allfällige Komorbiditäten abzuklären, dann solle man die Klienten für eine Kooperation gewinnen. Leitlinien für alle Begegnungen müssten Würde, Wertschätzung sein; Ziele der Interventionen Eigenwahrnehmung, Identitätsentwicklung, Willensbildung, Mobilisierung des eigenen Antriebs. Namentlich bei schwerer wiegenden Fällen müssten alle Player von der Reinigungskraft über Amtspersonen bis zum Therapeuten im Team koordiniert vorgehen. Präzise analysiert Schröter alle Faktoren, die für einen non-direktiven Umgang mit Messies bzw. eine (nur bei Vorliegen von Vermüllung/Verwahrlosung angezeigten) direktive Interventionen sprechen. Im letzten Kapitel stellt die Autorin ihr Konzept der Identitätsbildenden – Integrativen Messie-Therapie vor und beleuchtet dabei auch die Vorzüge der Gruppentherapie.

Fazit der bisher betrachteten Kapitel: Betroffene sehen sich in der ganzen Breite und Tiefe der Probleme bejahend angenommen und erhalten Aufschluss über mögliche Defizite in ihrer Entwicklungsgeschichte. Professionelle Helfer finden ein umfassendes und wertvolles Kompendium mit Beispielen für Lösungsansätze, selbst in „hoffnungslosen Fällen“.

Dieter Ebert stellt im eingeschobenen Kapitel 5 – ganz in psychologischer Fachsprache – Ergebnisse aus empirischen Studien seines Institutes vor. Für Betroffene wenig hilfreich geht es um Statistiken, welche Zusammenhänge aller möglichen Komorbiditäten mit dem Messie-Syndrom aufzeigen. Eine Erkenntnis: Knapp ein Viertel der Messies weisen keine psychiatrische Diagnose auf.

 … unglückliche Theorien – mangelnde Kooperation

Meine Hauptkritik zielt aber auf das Kapitel 1, in dem Veronika Schröter das Messie-Syndrom – sich auf die erwähnten Studien beziehend – zu dominant an die Vermüllungs-/Verwahrlosungssyndrome rückt. Dies ist namentlich mit Blick auf die verzerrende Darstellung von Vermüllungs- als Messiehaushalten in deutschen Privatmedien bedauerlich. „Trockene“ Messies trifft noch heute diese Unterstellung. Wenn (S. 27) zu lesen ist: „Während Menschen mit Wertbeimessungsstörung das gehortete Material sauber und geordnet aufbewahren…“ ist das – mit Verlaub – Unsinn. Nach dieser Logik würde ein gewichtiger Teil der Messies in die Kategorien Vermüllung/Verwahrlosung fallen. Und dagegen verwahre ich mich in aller Entschiedenheit: Ich war seit Kindheit Sammel-  u n d  Desorganisationsmessie (vorab Ersteres habe ich spätestens seit meinem kürzlichen Umzug abgelegt). Aber ich hatte niemals etwas mit Vermüllung am Hut. Fragwürdig sind auch weitere Ausführungen, namentlich diejenigen über Depressionsformen (S. 37/38).

Noch mehr als diese punktuelle Entgleisungen beelendet mich jedoch etwas, das Forschende, Therapeutinnen, Buchautoren generell betrifft: Gut 35 Jahre nach dem ersten Messie-Outing durch Sandra Felton fehlt es noch immer an einem (selbst-)kritischen Austausch an Fachtreffen untereinander. Allein schon bei der Terminologie werden verschiedene Bezeichnungen für dasselbe verwendet, z.B. fürs Sammelgut: „Gerümpel“, „Müll“, „Sammlung“, „Stapel“ usw. Würden sich Institutionen für Studien zusammenschliessen, kämen grössere Probandenzahlen zustande. Das würde den Wert dieser Arbeiten enorm steigern. Oder soll ich mich über meinem Organisationsdefizit damit trösten, dass es die vielen „Weisen im Messieland“ auch nicht besser machen?

Veronika Schröter „Messie-Welten – Das komplexe Störungsbild verstehen und behandeln“

Klett-Cotta 2017, ISBN 978-3-608-89183-6, 216 Seiten, Fr. 35.90

Johannes von Arx (Jg. 1943)

Im September 2001 startete die erste Selbsthilfegruppe in der Schweiz in Zürich. Kurz darauf outete ich mich in der TV-Sendung „Quer“ von Röbi Koller. Dabei blieb es nicht, ich vertiefte mich in die Thematik und engagiere mich – in der Doppelrolle als Betroffener und freier Fachjournalist. Bei der vorliegenden Besprechung tue ich dies vornehmlich in der letzteren Rolle.

johannesva@sunrise.ch