"Pathologisches Horten - Praxisleitfaden"
Dr. Nassim Agdari-Moghadam „Pathologisches Horten“ – Praxisleitfaden zur interdisziplinären Behandlung des Messie-Syndroms.
Vorab: Dieses umfangreiche Werk geht sehr fundiert den Urgründen des Messie-Syndroms nach. Damit ist es ein Markstein zum Thema, das sich vorwiegend an Fachpersonen wendet, die im Dienste von Betroffenen stehen. Die Autorin erforschte schon ab 2005 im Team der Sigmund Freud Privatuniversität Wien das komplexe Störungsbild und arbeitet seither mit Betroffenen. Ihr Fachbuch gründet auf der eigenen Dissertation. Nassim verweist zunächst auf die etymologische Bedeutung von «horarding/horten»: «verborgener Schatz, Versteck, Höhle», also auf eine aufschlussreiche psychologische Bedeutung. Gleich im zweiten Kapitel wartet sie mit einer bislang noch kaum publizierten psychoanalytischen Differenzierung auf, den Drang zum Horten, zu ausuferndem Sammeln einerseits und der schieren Unfähigkeit, Sammelgut loszulassen anderseits – beides typische Merkmale von Messies. Dies gehe auf zwei verschiedene Entwicklungsstufen (nach Sigmund Freud) zurück: Sammeln auf den oralen (Lust beim Aufnehmen durch den Mund), Nichtloslassenkönnen auf den analen Charakter (Lust an der Entleerung).
Das bedeutet für die Leserschaft, dass es fast unentbehrlich ist, über ein Basiswissen in der Psychoanalyse zu verfügen, um den Argumentationsketten, die ihrerseits reichlich Rückgriff auf viele andere Autoren nehmen, auch wirklich folgen zu können. Bei der Lektüre wird man konfrontiert mit zahlreichen differenzierten Beschreibungen all der auftauchenden Symptomatiken und Begleiterscheinungen. Hinweis nebenbei für Betroffene unter der Leserschaft: Nicht alle davon treffen denn auch auf die eigene Person zu!
Perfektionistische Vorstellungen und Phantasien über Ordnungssysteme fänden sich bei den meisten Messies. Dabei weichen «Realität und die Idealvorstellung so stark voneinander ab, dass jeder Versuch einer Annäherung nur scheitern kann», konstatiert Nassim.
Unter dem Zwischentitel Komorbiditäten geht sie ausführlich ein auf die Depression («depressive Symptomatik und pathologisches Horten bedingen einander…»), ADHS und Angststörungen («Patienten mit einer Angststörung haben kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten, wenn es darum geht, Probleme zu lösen…»). Weil digitales Horten weder Messies noch Dritte besonders belaste, seien in diesem Bereich keine besonderen Massnahmen angezeigt.
In einem umfangreichen Kapitel geht es um Behandlungsempfehlungen. Vorab die Psychotherapie, die oft langdauernd und rückfallrisikobehaftet sei. Ansatz: «Zuerst im Innern eine Ordnung schaffen und sich dann der Unordnung im Aussen widmen.» Grundlage sei die «einzigartige Beziehung» zwischen Betroffenen und Behandelnden. Der Einsatz von Medikamenten sei nicht einfach, führte aber gemäss einer Studie zu «deutlichen Verbesserungen des pathologischen Hortens». Äusserst hilfreich sei die Kombination Psychotherapie–Selbsthilfegruppe–Hausbesuche. Auftretende aggressive Impulse und Triebkräfte sollten «im Sinne des eigenen Wohls» wiedereingesetzt werden können. Schliesslich stellt Nassim ihr fünfstufiges Interventionskonzept vor: Situationsanalyse, Austausch, Chance geben, Entwickeln, neu orientieren und geht auf die besondere Situation der Angehörigen ein.
Zahlreiche berührende Fallbeispiele runden das 200seitige Werk ab. Etwa das des Herrn Z, der zwischen zwei Wohnorten seiner getrennten Eltern "kein Zuhause" hatte und sich auch später einsam und beziehungsunfähig fühlt. Die dominante Mutter kontrollierend, achtet die Grenzen von Z nicht, Bedürfnisse werden ignoriert. Manchmal seien "die vielen Sachen und Dinge ein Versuch, emotionale Verletzungen und Beziehungsabbrüche zu verleugnen".
Dieses Sachbuch ist naturgemäss theorielastig, dennoch immer wieder spannend zu lesen. Meine persönliche Kritik richtet sich auf die zu geringe Gewichtung des Aspektes Desorganisation, also die Unfähigkeit von Messies, auch nur im Kleinen Ordnung zu halten. Ein Umstand, der nicht selten die grössere Belastung darstellt als die reine Quantität der Gegenstände in einer Wohnung.
Fazit: Das Buch führt Indizienbeweise auf für die frühkindlichen Ursachen des Messie-Syndroms. Es mag sein, dass Fachpersonen nicht allen Darlegungen von N. Agdari-Moghadam beipflichten. Aber sie bilden ein solides Fundament für einen dringend notwendigen interdisziplinären Dialog.
Springer 2018, ISBN 978-3-662-57280-1 – ISBN eBook: 978-3-662-57281-8
Johannes von Arx